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BUCH DES PARADIESES.





Siebenschläfer.


|235| Sechs Begünstigte des Hofes
Fliehen vor des Kaisers Grimme,
Der als Gott sich läßt verehren,
Doch als Gott sich nicht bewähret:
Denn ihn hindert eine Fliege
Guter Bissen sich zu freuen.
Seine Diener scheuchen, wedlend,
Nicht verjagen sie die Fliege.
Sie umschwärmt ihn, sticht und irret
Und verwirrt die ganze Tafel,
Kehret wieder wie des hämischen
Fliegengottes Abgesandter.

Nun! so sagen sich die Knaben,
Sollt’ ein Flieglein Gott verhindern?
Sollt’ ein Gott auch trinken, speisen,
Wie wir andern. Nein, der Eine
Der die Sonn’ erschuf, den Mond auch,
|236| Und der Sterne Glut uns wölbte,
Dieser ist’s, wir fliehn! — Die zarten
Leicht beschuht, beputzte Knaben
Nimmt ein Schäfer auf, verbirgt sie,
Und sich selbst in Felsenhöhle.
Schäfershund er will nicht weichen,
Weggescheucht, den Fuß zerschmettert,
Drängt er sich an seinen Herren,
Und gesellt sich zum Verborgnen,
Zu den Lieblingen des Schlafes.

Und der Fürst dem sie entflohen,
Liebentrüstet, sinnt auf Strafen,
Weiset ab so Schwerdt als Feuer,
In die Höhle sie mit Ziegeln
Und mit Kalk sie läßt vermauern.

Aber jene schlafen immer,
Und der Engel, ihr Beschützer,
Sagt, vor Gottes Thron, berichtend:
So zur Rechten, so zur Linken
Hab’ ich immer sie gewendet,
Daß die schönen, jungen Glieder
|237| Nicht des Moders Qualm verletze.
Spalten riß ich in die Felsen
Daß die Sonne steigend, sinkend,
Junge Wangen frisch erneute.
Und so liegen sie beseligt. —
Auch, auf heilen Vorderpfoten,
Schläft das Hündlein süßen Schlummers.

Jahre fliehen, Jahre kommen,
Wachen endlich auf die Knaben
Und die Mauer, die vermorschte,
Altershalben ist gefallen.
Und Jamblika sagt, der Schöne,
Ausgebildete vor allen,
Als der Schäfer fürchtend zaudert:
Lauf ich hin! und hol’ euch Speise,
Leben wag’ ich und das Goldstück! —
Ephesus, gar manches Jahr schon,
Ehrt die Lehre des Propheten
Jesus. (Friede sey dem Guten.)

Und er lief, da war der Thore
Wart und Thurn und alles anders.
|238| Doch zum nächsten Beckerladen
Wandt’ er sich nach Brot in Eile. —
Schelm! so rief der Becker, hast du,
Jüngling, einen Schatz gefunden!
Gieb mir, dich verräth das Goldstück,
Mir die Hälfte zum Versöhnen!

Und sie hadern. — Vor den König
Kommt der Handel; auch der König
Will nur theilen wie der Becker.

Nun bethätigt sich das Wunder,
Nach und nach, aus hundert Zeichen.
An dem selbsterbauten Pallast
Weiß er sich sein Recht zu sichern.
Denn ein Pfeiler durchgegraben
Führt zu scharfbenamsten Schätzen.
Gleich versammlen sich Geschlechter
Ihre Sippschaft zu beweisen.
Und als Ururvater prangend
Steht Jamblikas Jugendfülle.
Wie von Ahnherrn hört er sprechen
Hier von seinem Sohn und Enkeln.

|239| Der Urenkel Schaar umgiebt ihn,
Als ein Volk von tapfern Männern,
Ihn den jüngsten zu verehren.
Und ein Merkmal übers andre
Dringt sich auf, Beweis vollendend;
Sich und den Gefährten hat er
Die Persönlichkeit bestätigt.

Nun, zur Höhle kehrt er wieder,
Volk und König ihn geleiten. —
Nicht zum König, nicht zum Volke
Kehrt der Auserwählte wieder:
Denn die Sieben, die von lang’ her,
Achte waren’s mit dem Hunde,
Sich von aller Welt gesondert,
Gabriels geheim Vermögen
Hat, gemäß dem Willen Gottes,
Sie dem Paradies geeignet,
Und die Höhle schien vermauert.

Entstehung: 29.12.1814,
überarbeitet Mai 1815
Originalpaginierung: 235–239
Johann Wolfgang von Goethe
West–oestlicher Divan
Stuttgart 1819


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