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BUCH DES PARSEN.





Vermächtniß alt
persischen Glaubens.


|217| Welch Vermächtniß, Brüder, sollt’ euch kommen
Von dem Scheidenden, dem armen Frommen?
Den ihr Jüngeren geduldig nährtet,
Seine letzten Tage pflegend ehrtet.

Wenn wir oft gesehn den König reiten,
Gold an ihm und Gold an allen Seiten,
Edelstein auf ihn und seine Großen
Ausgesät wie dichte Hagelschloßen.

Habt ihr jemals ihn darum beneidet?
Und nicht herrlicher den Blick geweidet,
Wenn die Sonne sich auf Morgenflügeln
Darnawends unzähligen Gipfelhügeln

|218| Bogenhaft hervorhob. Wer enthielte
Sich des Blicks dahin? Ich fühlte, fühlte
Tausendmal in so viel Lebenstagen
Mich mit ihr, der kommenden, getragen.

Gott auf seinem Throne zu erkennen,
Ihn den Herrn des Lebensquells zu nennen,
Jenes hohen Anblicks werth zu handeln
Und in seinem Lichte fortzuwandeln.

Aber stieg der Feuerkreis vollendet,
Stand ich als in Finsterniß geblendet,
Schlug den Busen, die erfrischten Glieder
Warf ich, Stirn voran, zur Erde nieder.

Und nun sey ein heiliges Vermächtniß
Brüderlichem Wollen und Gedächtniß:
Schwerer Dienste tägliche Bewahrung,
Sonst bedarf es keiner Offenbarung.

Regt ein Neugeborner fromme Hände,
Daß man ihn sogleich zur Sonne wende!
Tauche Leib und Geist im Feuerbade,
Fühlen wird es jeden Morgens Gnade.

|219| Dem Lebendigen übergebt die Todten,
Selbst die Thiere deckt mit Schutt und Boden
Und so weit sich eure Kraft erstrecket
Was euch unrein dünkt, es sey bedecket.

Grabet euer Feld in’s zierlich Reine,
Daß die Sonne gern den Fleiß bescheine,
Wenn ihr Bäume pflanzt, so sey’s in Reihen,
Denn sie läßt Geordnetes gedeihen.

Auch dem Wasser darf es in Kanälen
Nie am Laufe, nie an Reine fehlen,
Wie euch Senderud aus Bergrevieren
Rein entspringt, soll er sich rein verlieren.

Sanften Fall des Wassers nicht zu schwächen,
Sorgt die Gräben fleißig auszustechen,
Rohr und Binse, Molch und Salamander,
Ungeschöpfe! tilgt sie mit einander.

Habt ihr Erd’ und Wasser so im Reinen,
Wird die Sonne gern durch Lüfte scheinen,
Wo sie, ihrer würdig aufgenommen,
Leben wirkt, dem Leben Heil und Frommen.

|220| Ihr, von Müh zu Mühe so gepeinigt,
Seyd getrost, nun ist das All gereinigt,
Und nun darf der Mensch, als Priester, wagen
Gottes Gleichniß aus dem Stein zu schlagen.

Wo die Flamme brennt erkennet freudig,
Hell ist Nacht und Glieder sind geschmeidig,
An des Heerdes raschen Feuerkräften
Reift das Rohe Thier– und Pflanzensäften.

Schleppt ihr Holz herbey, so thut’s mit Wonne,
Denn ihr tragt den Saamen irdscher Sonne,
Pflückt ihr Pambeh, mögt ihr traulich sagen:
Diese wird als Docht das Heilge tragen.

Werdet ihr in jeder Lampe Brennen
Fromm den Abglanz höhern Lichts erkennen,
Soll euch nie ein Mißgeschick verwehren
Gottes Thron am Morgen zu verehren.

Da ist unsers Daseyns Kaisersiegel,
Uns und Engeln reiner Gottesspiegel,
Und was nur am Lob des Höchsten stammelt
Ist in Kreis’ um Kreise dort versammelt.

|221| Will dem Ufer Senderuds entsagen,
Auf zum Darnavend die Flügel schlagen,
Wie sie tagt ihr freudig zu begegnen
Und von dorther ewig euch zu segnen.


|222| Wenn der Mensch die Erde schätzet,
Weil die Sonne sie bescheinet,
An der Rebe sich ergetzet
Die dem scharfen Messer weinet,
Da sie fühlt daß ihre Säfte,
Wohlgekocht, die Welt erquickend,
Werden regsam vielen Kräften,
Aber mehreren erstickend;
Weiß er das der Glut zu danken
Die das alles läßt gedeihen;
Wird Betrunkner stammlend wanken,
Mäßiger wird sich singend freuen.



Entstehung: 13./14.03.1815
Originalpaginierung: 217–222
Johann Wolfgang von Goethe
West–oestlicher Divan
Stuttgart 1819


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